Es ist eine Sportstunde wie
jede andere. Die Kinder toben auf den Bänken herum, machen Rennspiele oder
folgen anderen Anweisungen von uns Freiwilligen. Im Gegensatz zu den meisten
Lehrern in unserer Grundschule drohen wir den Kindern nicht mit körperlicher
Bestrafung, denn das ist gegen unsere Prinzipien. Außerdem finden die Kinder es
weitaus schlimmer, wenn sie eine Stunde vom Sportunterricht ferngehalten
werden, da sie gestört haben.
Alles scheint an diesem Tag normal,
außer dass ein Kind auf der Bank sitzt und bedrückt ausschaut. Als ich zu dem
Mädchen hingehe und frage, was mit ihr los ist, sagt sie mir dass sie Malaria
habe. Das Fieber kann ich nur bestätigen. Ich sage ihr, dass sie so nicht
weiter am Unterricht teilnehmen könne und will sie nach Hause schicken, aber
sie sträubt sich dagegen und sagt mir nach einer Weile, dass sie dann zu Hause
geschlagen werden würde. Ich kann mir das natürlich nicht erklären und sage
ihr, dass ein krankes Kind das gute Recht darauf hat nach Hause zu gehen und
dort gesund gepflegt zu werden. Nach einigem Widerwillen steigt sie in den
Schulbus ein und nachdem ich dem Fahrer klargemacht habe, dass er das Mädchen
doch bitte bis vor die Haustür begleitet und den Eltern die Situation erklärt,
damit nichts passiert, fahren sie los. Für mich hat sich die Angelegenheit
damit erstmal erledigt und ich mache mir keinen großen Kopf mehr.
Wahrscheinlich habe ich ihre Worte auch einfach nicht ernst genug genommen. Das
war so gegen Oktober.
Einige Tage später fällt mir
dasselbe Mädchen wieder auf dem Schulhof auf. Ihr Gesicht ist voller Wunden und
Krusten. Obwohl man hier weiß, dass viele Kinder zu Hause geschlagen werden, so
hat doch keines der anderen Kinder solche Marken und Narben im Gesicht wie
Blessing. Allerdings habe ich bei einer anonymen Umfrage von einem Student
Teacher schon bemerkt wie viele Kinder angekreuzt hatten, dass sie hin und
wieder körperlich bestraft werden. Wie auch immer, dieser Fall scheint mir
extremer und ich kann das nicht so einfach als „kulturellen Unterschied“ akzeptieren.
Ich nehme das also Kind bei Seite und frage sie ein bisschen nach ihrer Familie
und generell ihrem Leben zu Hause. Sie erzählt sehr viel und ich weiß nicht
ganz was ich ihr glauben kann. Irgendwann gibt sie aber zu, dass sie nicht
immer nur vom Stuhl fällt und daher die Verletzungen kommen und es kommt auch
raus, dass sie nur mit ihrer Großmutter zusammen lebt, die sie regelmäßig
schlägt und anderweitig wehtut. Ich bekomme das Gefühl, dass das alles eine
Nummer zu groß für mich ist, noch dazu wo ich gerade erst seit knapp einem
Monat in Kamerun bin und wahrlich nicht von mir behaupten kann, die Kultur
schon genug verstanden zu haben. Also begebe ich mich zu Madame Érica, die
Bibliothekarin, die ich in meinen ersten Wochen sehr liebgewonnen habe und
vertraue mich ihr an. Sie weist mich nur darauf hin, dass ich hier besonders
die Hierarchien beachten muss und mich daher an den Schulleiter wenden solle,
was ich dann auch direkt tue. Aus dem Gespräch mit ihm kommt heraus, dass
dieser Fall schon im vorigen Jahr bekannt wurde und er, sowie eine ältere
Lehrerin (Madame Irine) schon einmal mit der Großmutter gesprochen hätten, die
allerdings alles abgestritten habe. Für mich macht diese Aussage die Lage noch
schlimmer, da mir deutlich wird, dass Blessing schon ziemlich lange unter
solchen Konditionen lebt. Ich beharre darauf, dass wir etwas Konkretes
unternehmen und verständige mich mit dem Schulleiter darauf, dass wir die
Großmutter erneut zum Gespräch einladen. Am besagten Tag erscheint sie nicht.
Nach zwei Versuchen entscheiden wir (der Schulleiter, die ältere Lehrerin und
ich) uns, dass wir zu Blessing nach Hause gehen, um die Großmutter zu besuchen.
Da wir früh morgens gehen, treffen wir sie glücklicherweise auch dort an. Wir
reden erst ziemlich allgemein über die Beziehung zu ihrer Enkeltochter und
verweisen dann auf den Anlass unseres Kommens. Das Gespräch führt fast die
gesamte Zeit Madame Irine, da sie erstens aufgrund ihres Alters besser auf
einem Niveau mit ihr reden kann und ich auch noch nicht ganz gut auf
Pidgin-English (was die Großmutter ausnahmslos spricht) kommunizieren kann. Die
Großmutter streitet alles ab und behauptet Blessing sei ein schwieriges Kind,
das zu viel herumtobt und sich beim Spielen die Verletzungen zuziehen würde.
Nachdem sie uns das Versprechen gibt, dass sie ihre Enkelin gut behandeln wird,
bleibt uns nicht viel anderes übrig, als den Besuch zu beenden und wieder zur
Schule zu gehen. Die nächsten paar Wochen scheint alles gut zu gehen und auf
Nachfragen hin beteuert Blessing, dass es ihr gut gehe.
Anfang Dezember dann treffe
ich sie und ihre Großmutter auf der Straße und drücke meine Freude darüber aus,
dass sich ihr Zusammenleben so verbessert habe - falsch gedacht. In der
gleichen Nacht noch werden mehrere Lehrerinnen der Schule angerufen und von der
Schwester der Klassenlehrerin informiert, dass die Großmutter mit dem Mädchen durch
mehrere Bars in Buea ziehe und ein Bier nach dem anderen trinke. Als ich
Blessing am nächsten Morgen darauf anspreche, kommt heraus, dass die Großmutter
jeden Abend einiges trinkt und sie fast immer währenddessen mit sich
herumschleppt. Gerade an solchen Abenden würde sie besonders viel geschlagen.
Nach diesem Vorfall
entscheiden wir uns dann dazu, erneut zur Großmutter nach Hause zu gehen.
Dieses Mal erkennt sie den Ernst der Lage schon eher und fleht uns auf Knien an
ihr zu verzeihen (ich verstehe leider nur die Hälfte von ihrem Pdigin-English).
Wir machen ihr klar, dass wir uns, sofern wir noch einmal kommen müssten, an
das Sozialamt wenden würden und das einige gravierende Konsequenzen für sie
haben könne. Es sieht so aus, als ob sie das einsehe. In genau dieser Zeit ist
mein Zwischenseminar, weshalb ich eine Woche in Kribi bin und danach eine
weitere Woche wegen Malaria im Bett liege. Als ich wieder gestärkt in die
Schule zurückkomme und Blessing über die Lage zu Hause interviewe, kommt
heraus, dass sich die Situation erst etwas beruhigt zu haben schien, doch es
danach wieder von Neuem begann. Blessing berichtet uns von weiteren
Misshandlungen. Zweimal rennt sie schließlich durch strömenden überraschenden
Regen (in der höchsten Trockenzeit!) zu meinem Appartment, weil sie es zu Hause
nicht mehr ausgehalten hat. Das kann ich so nicht weiter mitmachen und beharre
darauf, dass wir so schnell wie möglich zum Sozialamt gehen, was wir noch in
derselben Woche in die Tat umsetzen. Mit dem Social Worker und der Polizei
verständigen wir uns erstmal darauf, dass Blessing auf keinen Fall noch eine
weitere Nacht zurück zur Großmutter kann und erstmal im Orphanage von UAC - meiner
Organisation - für mind. eine Nacht unterkommen könne.
Gemeinsam mit dem
Sozialarbeiter gehen wir zu Blessing nach Hause, um die notwendigsten Sachen
einzupacken und machen mit der Großmutter ein Treffen für den nächsten Morgen
im Büro aus. Sie soll alles versuchen, um auch ihren Sohn, Blessings Vater (der
seit Jahren in Limbe wohnt und ihr das Kind überlassen hat), zu erreichen,
damit auch er an dem Meeting teilnehmen kann. (Die Mutter von Blessing ist
anscheinend schon unmittelbar nach der Geburt weggegangen und wollte sich nie
kümmern.)
Nur die Großmutter erscheint
am folgenden Tag. Wir haben ein sehr offenes Gespräch, in dem vieles, was wir
vermutet hatten, bestätigt wird. Mit Blessings Anwesenheit fragen wir die
Großmutter nach jeder einzelnen Wunde und ihrer Entstehung und sie versucht
sich jedes Mal noch zu rechtfertigen. Es wird auch deutlich, dass sie
alkoholabhängig ist und sich deshalb öfters nicht mehr gut selbst unter
Kontrolle zu haben scheint. Vieles kommt auf den Tisch, doch der Vater ist
immer noch nicht erschienen.
Einen Tag später meldet er
sich dann. Wir treffen uns nochmals alle zusammen und machen aus, dass Blessing
ein paar Tage im Orphanage bleiben kann, bis wir entschieden haben, wie es
weitergeht. Es heißt auch, dass eine Tante aus Malabo bald ankommen soll, die
schon immer alles Finanzielle für Blessing geregelt habe. (Das Geld kommt bei
dem Mädchen leider nicht ausreichend an, da die Großmutter es häufig für
Alkohol statt für Essen ihrer Enkelin verwendet).
Als diese Tante endlich in
Kamerun ankommt, sind wir alle sehr froh. Ihr scheint das Schicksal ihrer
Nichte sehr am Herzen zu liegen und auch wenn sie nicht lange bleiben kann, so
möchte sie alles versuchen, damit Blessing von nun an bei einer Tante oder
anderen Verwandten leben kann, da man eine Alkoholikerin nicht von einem Tag
auf den anderen umerziehen kann.
So lief die Geschichte also
von statten. Nun ist es März und Blessing lebt seit ca. einem Monat nicht mehr
zu Hause. Bald wird sie zu einer Bekannten ziehen, auf die sich der Social
Worker und die Familie geeinigt haben.
Nach fast 6 Monaten
Engagement in dieser Sache kann ich doch tatsächlich sagen: Bemühungen tragen
Früchte. Schauen wir mal, wir sich das ganze noch entwickelt. Ich hoffe
inständig, dass es beim Positiven bleibt, doch im Moment scheint Blessing schon
sehr viel fröhlicher und offener in der Schule, sie lacht viel mehr und trägt
bessere Kleidung. Das macht mich sehr glücklich. Denn auch wenn ich in diesem
Jahr keine großen Werke vollbringen kann, so kann ich zufrieden sein, diesen
ganzen Prozess ins Rollen gebracht zu haben. Und ich denke mir, dass auch
solche kleinen schrittweise positiven Veränderungen etwas ausmachen können.
Auch an diesem Punkt möchte
ich noch einmal betonen, dass dies ein einzelnes Vorkommnis ist, das nicht zur
Regel gehört. Ich kenne genug kamerunische Familien, in denen es mit viel
friedlicheren Methoden abläuft und das Zusammenleben gut klappt, sodass die
Kinder keine Angst vor ihren Eltern haben müssen.
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